v.l.: Denis Petković, Nanette Waidmann, Günter Franzmeier © Christoph Sebastian
Seine Begierden sind stärker als er, sein Handeln hormongesteuert. Seine Erkenntnis, Unheil sonder gleichen über seine Liebste gebracht zu haben, wirkt schließlich todbringend. Im Urfaust von Johann Wolfgang von Goethe, in dieser Spielzeit am Volkstheater in Wien zu sehen, endet die Gretchentragödie anders als gewohnt. Und sie beginnt anders als gewohnt.
In blutverschmiertem Kleid fragt sich die junge Frau, was denn aus ihr geworden sei. Sie fragt nicht, wer an ihrem Unheil Schuld hat, sondern wie sie sich verändert hat. Erst nach diesem Vorgriff in die Geschichte darf das Spiel seinen bekannten Lauf nehmen. Nanette Waidmann in der Rolle der Ver- und Entliebten brilliert an diesem Abend mehrfach. Besonders dort, wo sie rein aufgrund ihrer Mimik innersten Gefühle nach außen kehrt. Unterstützt von einer genialen Lichtregie, bringt sie im Erkennen ihrer Liebesgefühle ihr Gesicht zum Leuchten, dass es bis in die letzten Rangplätze hinauf strahlt. Ein Theatermoment mit höchstem Erinnerungswert ganz abseits des gesprochenen Wortes.
In nur einer Stunde durchleben Faust und Gretchen die höchsten Wonnen der Liebe genauso wie die tiefsten Täler des menschlichen Daseins. In Enrico Lübbes Inszenierung, die schon 2009 in Chemnitz nur Lorbeeren einheimste, agiert jedoch eine andere Besetzung als in Deutschland. Ein großer, offener Quader, auf der ansonst freien, hellen Bühne deutet sowohl die räumlichen als auch die psychischen Behausungen der AkteurInnen an. Die kurze Aufführungsdauer wird durch eine rigorose Textstreichung genauso erreicht wie durch den Verzicht auf Umbauten und verleiht der Geschichte ein rasantes, den Atem raubendes und den medialen Sehgewohnheiten der Jetztzeit geschuldetes Tempo. Schlag auf Schlag wechselt eine Szene die nächste ab. Das literarische Substrat hält dieser Hetzjagd jedoch erstaunlich gut stand.
Dies hat vor allem auch mit den starken Bildern zu tun, die an diesem Abend aus den Konstellationen der Beteiligten auf der Bühne und ihrer Spielintensität entstehen. Nicht zuletzt ist dies auch den Kostümen und der minimalen aber effektvollen Ausstattung geschuldet. Nacktheit, viel Theaterblut und eine Waffe reichen, um die Emotionen im Publikum anzustacheln. Denis Petković als Faust mutiert vom Pullover tragenden, bebrillten Nerd zum tief bewegten, sich selbst seine Schuld eingestehenden jungen Mann. Sein verzweifelter Versuch, Gretchen aus ihrem Kerker zu holen, in dem sie blutbesudelt und geistig umnachtet wie ein lebendes Monument am Boden verankert sitzt, misslingt kläglich. Zu oft rutscht er an ihren blutnassen Extremitäten ab – ein einprägsames, metaphorisches Bild der Schuld, die auf der jungen Frau mit dem Tod ihrer Mutter und der Tötung ihres Sohnes lastet. Faust richtet in höchster Verzweiflung und in letzter Konsequenz die Waffe, die ihm Mephisto anbietet, gegen sich selbst und nicht gegen den Teufel. Mit seinem Freitod schiebt er die Verantwortung seines Tuns nicht an ein auferlegtes Schicksal, nicht an böse Mächte, sondern übernimmt sie kompromisslos.
Es sind aber nicht nur die Rasanz und die Bilder, die beeindrucken. Günter Franzmeier als Mephisto wird in der Inszenierung Faust, Gretchen und der berechnenden Marthe (Heike Kretschmer) so subtil zur Seite gestellt, dass sein Einfluss als böse Intuition und schleichendes Gift beinahe physisch spürbar wird. Das Böse oszilliert in dieser Inszenierung sowohl zwischen extrinsischen als auch intrinsischen Einflüssen, gegen die sich die ProtagonistInnen nicht wehren können. Nichts an Franzmeiers Mephisto ist sympathisch, nichts entschuldbar, aber alles abstoßend menschlich. Gerade in jenen Augenblicken, in welchen man sich zu fragen beginnt, was denn nun die Moralvorstellungen aus Goethes Zeit mit den unsrigen zu tun haben, tritt Valentin (Robert Prinzler), der Bruder Gretchens, auf die Bühne.
Ganz in Machopose, mit schwarzer Lederjacke und dunklen Haaren mit langen, seitlichen Kotletten, vertritt er all jene Menschen, die uneheliche Kinder als Schande für die gesamte Familie ansehen. Mit einem Schlag verknüpfen sich Assoziationsketten hin zu jenen Gesellschaften, in denen Frauen für außereheliche Beziehungen auch heute noch bitter büßen müssen, wenn diese aufgedeckt werden. Jene, welche die frühen 70er Jahre erlebten, die für die Kostüme und auch die Musik Pate standen, können sich selbst noch an die letzten miefigen und verlogenen Zeiten erinnern, in denen Frauen, die Kinder abgetrieben haben, kriminalisiert worden waren. Deep Purples „Child in time“ begleitet das Drama vom Anfang bis zum Schluss und hebt es zugleich streckenweise in eine psychedelische Sphäre, in der Traum und Wirklichkeit voneinander nicht mehr zu unterscheiden sind und in der all jene Sinne ausgeschaltet sind, die für ein verantwortungsbewusstes und reflektiertes Handeln benötigt werden.
Dieser Urfaust straft alle Lügen, die klassische Literatur für fad und abgeschmackt halten. Ein Paradestück einer guten Regie, gepaart mit ausgezeichneten Schauspielern – einfach sehens- und nachdenkenswert.
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